Die Bauernschlacht am Knoten

(von Heinrich-Wilhelm Gotthardt, Wiesbaden)

Ob es heute noch so ist? Ich weiß es nicht! Fast möchte ich es aber glauben bei all dem zähen Festhalten der Westerwälder am Althergebrachten. Vielleicht hat aber der neuzeitliche Sport die Jugend in andere Wettkämpfe gestellt!

Als ich ein Junge war, so in den Jahren 1892 bis 1900, kam ich in sommerlichen Ferien des Weilburger Gymnasiums zu den nächsten Verwandten meines Vaters auf den Westerwald. Das Dorf Oberrod, der Vorfahren Heimat, war das Ziel des vierstündigen Marsches. In diesem versteckten Winkel lebten zwei Vaterbrüder, und im Hause des Ältesten („Ares Hannes“ hieß er bei seinesgleichen) war ich von früh bis spät mit Leib und Seele ein Bauer. Der Adel dieses Mannes, der wie ein wahrhaftiger König in seinem Anwesen herrschte, hielt mich derart im Bann, dass ich ihm nicht von der Seite kam. Klug und lebenserfahren wusste der Alte mich trefflich zu nehmen. Er führte mich geduldig und unaufdringlich belehrend in das Herbe und Schwere des Bauerndaseins ein, dass über diesem Zusammenleben etwas Weihevolles liegt und dass es mir heute noch oft erscheint, als ob die Tage, die dieser Mann mit mir gestaltete, mit die wertvollsten meiner Jugend waren. Selten ist mir ein Mensch in seiner Herzensgüte innerlich nähergetreten als dieser auch in seiner Bauernschaft so hoch angesehene Verwandte. 
Um aber auch mit dem jungen Volke zu leben, schickte mich mein Vater hier und da nach dem nahen und größeren Mengerskirchen, wo ich im Hause des ältesten Onkelsohnes, eines um 27 Jahre älteren Vetters, dessen zwei mir fast gleichaltrige Söhne als treue Spielkameraden zu schätzen wusste. Ihre Vermittlung führte mich mit der zahlreichen Jungmannschaft des Fleckens zusammen, zuerst bestaunt, beargwöhnt und bespöttelt, dann aber, als man merkte, dass mir der Stadthochmut fernlag, geachtet und der wirklichen Freundschaft gewürdigt. An Wochentagen, an denen wir nicht bei der Feldarbeit oder beim Häckselscheiden und Füttern helfen mussten, trieben wir uns in dem verworrenen Gemäuer des Schlosshofes oder im „Minner Bärg“, einem Nadelholzwaldstück linker Hand auf dem Wege nach Elsoff zu, spielend herum. Jeder war mit dem zum Bauernbuben gehörenden „Stäcke“, der Kraft und Mut kennzeichnenden Haselgerte, ausgerüstet. Und mit Vorliebe rasteten wir dem „Minner Bärg“ gegenüber, im Schutze alter Buchen, in deren Schatten noch heute ein wunderbares Heiligenhäuschen steht, das wie selten eines so malerisch und stimmungsvoll den ernsten Wanderer zur stillen Einkehr und Betrachtung mahnt.

Der Sonntag aber, der ganz der Jugend gehörte, brachte uns in geschlossenem Trupp hinaus in die reizvolle Umgebung. Wie ein Bild aus der Zeit schlimmer Bauernnot mutete es mich an, wenn wir in mehreren Haufen möglichst leise den steilen Hang des Eigenbergs (heute: Maienburg) erklommen und dann mit Geheul in den Burghof drangen, um den frevelnden Ritter für seinen Übermut zu bestrafen. Der einsame Berg, den die Bauern wegen des unterhalb der Burgruine eingegangenen Dorfes Meyenberg noch heute die Meyenburg nennen, bot wenigstens in seinem dichten Laubdach reichlich Schatten und Erholung. Aber der Weg nach dem entgegengesetzt liegenden „Galgenkopf“ und dem „Kleinen Knoten“ lag in der prallen Julisonne, die unerbittlich auf den Schädel brannte. Doch war das Ziel verlockend. Wie von Teufelshänden getürmt, Wurfgeschosse eines Riesen, aufgehäuft zur letzten Gegenwehr, so liegen sie da, die Blöcke einer wildbewegten Vergangenheit. Trotz hohen Alters haben sie sich gut gehalten, sie, die so hart sind, wie der Starrsinn der Bewohner. Was haben sie geschaut, die Zeugen einer Ewigkeit? All das Dürftige und Kahle, das Rauhe und doch in seiner Armut so Packende der Westerwaldnatur hat sich wie nirgends in diesem Erdenstück vereinigt. Wie mancher mag wie ich, schon Jahrhunderte vor mir, in diesem zerklüfteten Gestein gewagte Kletterversuche gemacht und sich dabei die ersten Schrammen und Beulen und auch zerrissene Hosen geholt haben. Wenn Steine reden könnten, die wüssten gar viel zu erzählen von Jugendfreude aber auch von bitterer Todesnot. Denn einst stand allhier als weites Wahrzeichen ins Land ragend der Galgen der Herrschaft Mengerskirchen. Und wie die nahe nur noch in dürftigen Mauerresten erkennbare Heilige Kreuzkirche dem Todgeweihten den letzten geistlichen Trost gegeben haben mag, so hat ihm auch die gütige Mutter Erde noch einmal vorm Sterben die Heimat im schönsten Bilde gezeigt. 

Es musste, als ich wieder mal im Juli in Mengerskirchen weilte, ein Siedepunkt gekommen sein, denn öfter wurde erzählt, die Arborner Buben hätten sich wiederholt sehen lassen und drohende Reden geführt. Auch die begleitenden Steinwürfe hätten dabei nicht gefehlt. Das durfte sich die kriegerische Jugend Mengerskirchens nicht gefallen lassen. Und so wurde im Rat der Jungen ein Feldzug gegen die „Krischer“ von drüben beschlossen. Es drang nicht in die Öffentlichkeit, dass am Sonntag die Entscheidung fallen sollte. In einer Stärke von etwa fünfzig wehrhaften Gestalten, die alle im Alter von 11-15 Jahren standen, zogen wir los und gaben zu Hause die übliche Galgenkopfwanderung vor.
Jeder war mit einem handfesten Knüppel ausgerüstet und sorgte am Hange des Galgenkopfes für die nötigen steinernen Wurfgeschosse. Dann lagerten wir uns und berieten, in welcher Weise der Angriff auf die etwa erscheinenden Arborner erfolgen sollte. Unterdessen waren auch mehrere Vorposten auf die Höhe gestellt werden, um die Ankunft der Feinde rechtzeitig zu erkennen. Im Kriegsplan wurde „Gerbersch Ferdnand“ (dem jetzigen Zahnarzt Dr. Ferdinand Orth in Osnabrück) der rechte Flügel anvertraut, während ich den linken Flügel führen durfte. Die Stärke lag im Zentrum, denn hier gebot „Kowese Dicker“, ein Bulle an Kraft, vor dessen Fäusten ein jeder einen Heidenrespekt hatte. Stahlsehnen waren Erbteil in seiner Familie, denn das Schmiedehandwerk betrieben Vater und Vorfahren. Mit dem Ursus in dem Film „Quo Vadis“ möchte ich ihn vergleichen, so stand er da in seinem blonden und breiten Bauernschädel und in urwüchsiger und titanenhafter Gestalt. Wer hinter ihm zu stehen kam, der war für alle Fälle gesichert und konnte getrost auch in das schwerste Treffen geraten. Die ansteigende Höhe des Galgenkopfgeländes und die daran anschließende Hochfläche, auf der das zerfallene Kirchlein liegt, sind der Schauplatz meiner eigentlichen Erzählung.

Es führt da, von Mengerskirchen kommend, am Fuß des Galgenkopfes hin bis über die Höhe in eine Nachbarsenke, die früher schlechte, jetzt aber brauchbare Straße zum Dorfe Arborn. Der Kamm des „Kleinen Knotens“ ist nicht nur eine Wasserscheide. Er trennt auch einen katholischen und einen evangelischen Volksteil. Wohl selten hat sich im Leben der Gleichstämme ein Gegensatz so abschließend und auch geistig einengend ausgewirkt wie gerade diese religiöse Spaltung. Auch die wirtschaftlichen Interessen schieden sich schon von jeher am Knoten. Das katholische Mengerskirchen strebte nach dem wirtschaftlich stärkeren Weilburg, nach dem katholischen Hadamar oder nach Limburg und das evangelische Arborn spann seine Fäden nach dem handels- und gewerbetüchtigen evangelischen Herborn und der alten Reichsstadt Wetzlar. Wie ein Riegel trotzte der Knoten zwischen den getrennten Lagern. Die aus dem Flecken mögen in alten Zeiten wohl oft auf die kahle, beherrschende Höhe gestiegen sein und ins Tal der abtrünnigen Protestanten geschaut haben und ein andermal mögen die aus Arborn heraufgekommen sein und verachtungsvoll ins weite Talbecken derer geblickt haben, die da nach ihrer Meinung die Heiligen anbeteten. Und Reibereien werden auch hier unter der Jugend wohl keine Seltenheit gewesen sein. Solche Streitigkeiten bleiben zu gerne Erbgut getrennter Volksgenossen. 

Noch waren wir in die Vorreden des erhofften Sieges vertieft als die Vorposten durch Zeichen und Rufe das Erscheinen der Arborner meldeten. Schnell schwärmten die Flügel aus, und bald war die Höhe gewonnen. Nur die Mitte unserer Front zeigt sich in voller Größe, so dass die Arborner, die etwa 20 Mann stark waren, getäuscht wurden und mutig und verwegen näher kamen, als ihnen bald lieb war. Denn ein Steinhagel unserer gesamten Streitmacht trieb sie in gebührende Entfernung. Hatte uns der Sturm auf den Eigenberg in den Anfang der Neuzeit versetzt, so rückte uns die jetzige Kampfesweise gar in die Zeit des grauen Altertums. Wie im Trojanischen Kriege standen die Schlachtreihen einander gegenüber. Drohend wurden die Knüppel geschwungen und furchtbare Ankündigungen sagten dem Gegner ein schreckliches Ende voraus. Da die im Kampfe zwischen Städtern und Dörflern übliche Rufe „Bauernknippel“ und „Stadtschisser“ hier keinen Sinn hatten, diente der alte Glaubensgegensatz als grimmige Waffe. Die Rufe „Katholische Kreuzköpp“ und „Lutherische Blooköpp“ flogen hin und her, aber auch andere sehr gangbare Schimpfwörter fanden volles Verständnis. Selbst die liebenswürdige Aufforderung des Ritters Götz von Berlichingen wurde reichlich verwendet. Das ging so eine gute Weile, bis Kühne auf beiden Seiten vereinzelt vorstürmten, Steine warfen und dann wieder durch Gegensätze verscheucht wurden. Die Steine flogen oft so zahlreich herum, dass man sich über den glimpflichen Ausgang wundern musste. Nur hier und da gerieten je zwei Einzelkämpfer aneinander, schlugen sich zuerst die Knüppel entzwei, um dann zu ringen oder mit den Fäusten aufeinander loszuschlagen. Auch wurde von den genagelten Stiefeln Gebrauch gemacht. Meist wurden die Kämpfer wieder durch andere getrennt, und unter Steinwürfen wurde der Rückzug in die Front angetreten. Geplatzte Nähte oder blutende Nasen waren für die edle Sache erlittene Wunden. Einmal war ich als Führer zu weit vorgegangen und bekam von drei Feinden umringt einige Arborner Schläge zu fühlen. Doch mein Flügel, auf dem des Vetters Söhne standen, hatte mich schnell wieder herausgehauen. Da brachte „Kowese Dicker“ die Entscheidung. Er hatte sich bisher noch etwas zurückgehalten, aber auf einmal stürmte er vor, packte sich den stärksten Arborner und verdrosch ihn. Der brüllte, aber die Seinen wagten sich an den fuchtelnden Schmied nicht heran. Erst als es dem „Kowes“ genug schien, ließ er den Gegner laufen. Das war für uns das Zeichen zum Gesamtangriff. Es dürfte keine Heldentat sein, dass wir die an Zahl und Kraft schwächeren Arborner zurückschlugen. Sie gaben unter einem Steinregen Fersengeld und nahmen ihren verprügelten Führer in die Mitte. Noch eine Strecke verfolgten wir sie, die uns die schwerste Rache zuriefen.
Wir hielten den Erfolg aber für einen Sieg, lagerten uns unter Waffentrümmern und führten stolze Reden. Aber die geplante Siegesfeier fand ein schnelles und unerwartetes Ende. Der Held des Tages „Kowese Dicker“, hatte den wirklich nicht schönen Spitznamen „Gemaa Sau“. Das böse Wort war mir wiederholt heimlich begegnet, aber ich dachte nicht daran, es laut auszusprechen. Da flüsterte mir einer zu, ich sollte den Helden einmal mir diesem Beinamen beehren. Der Teufel ritt mich, weil ich mich auch als Sieger fühlte, ich erhob mich und sagte: "Wir haben alle tapfer gekämpft, am besten aber die Gemaa Sau!“ Es war ein Glück, dass ich in der Richtung nach Mengerskirchen stand, denn unter dem schallenden Gelächter des Heeres erhob sich der so herrlich Angeredete und stürzte mit blutunterlaufenen Augen auf mich zu. Blitzschnell hatte ich die Lage erfasst und mir einen Vorsprung gesichert. Im Turnen gewonnene Gelenkigkeit und die leichteren Stadtschuhe erfüllten ihre Pflicht. Wie ein Rennen auf Tod und Leben ging es den Abhang hinunter, über moosbewachsene Blöcke, um Erdlöcher herum und dann auf den steinigen Weg nach Mengerskirchen zu. Anfangs waren es höchstens zehn Meter Vorsprung, die ich hatte, dann aber vergrößerte sich der Abstand vielleicht auf zwanzig Meter. Der „Kowes“ immer hinter mir her, tierische Laute und unheilvolle Drohungen ausstoßend. Ich bin in meinem ganzen Leben nicht mehr eine solche Gehstrecke von einer guten halben Stunde in so wilder und atemraubender Art gelaufen. Musste ich doch fürchten, dass er, der sich wie ein Amokläufer gebärdete, mich kurz und klein schlagen würde. Ich hatte keinen trockenen Faden am Leibe, als ich bei den ersten Häusern des Fleckens fast zusammenbrechend ein wenig Halt machte und merkte, dass auch er abbaute und fünfzig Meter zurückblieb. Die anderen waren ein Stück des Weges hinterher gelaufen, hatten dann aber, als sie meines rettenden Vorsprungs innewurden, das Rennen aufgegeben. Ich schlich ins Haus, wo ich zum Schaden noch den Spott erntete. Zwei Tage wagte ich mich nicht über die Straße, da „Kowese Dicker“ mich scharf im Auge behielt. Doch die grundgute Base kam mir zu Hilfe. Auf ihre Bitten zog der Vetter lachend als Unterhändler in die zwei Häuser nebenan liegende Schmiede. Er brachte bald die Friedensbedingungen mit, auf die ich gern einging. Ich versprach den Spitznamen nicht mehr zu sagen, und „Kowese Dicker“ erklärte, mich fortan in Ruhe zu lassen.

So ging die „Knotenschlacht“ oder „Der Kampf am Galgenkopf“, wie man die feindliche Begegnung der Bauernbuben nennen könnte, zu Ende.